Ärzte ohne Grenzen: Geburtshilfe in Afghanistan

Dr. med. Vivian Simm
Oberärztin
Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

Eingang zur Klinik in Khost.
Bild: Ben King/ MSF

Kontaktinfos

Die zweitgrößte Geburtshilfeklinik der Welt befindet sich in Khost – mitten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Betrieben wird die Klinik von der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Dr. med. Vivian Simm reiste im Sommer 2017 in die Provinzhauptstadt, um das Projekt für drei Monate zu unterstützen. Im Interview erzählt sie von Ihren Eindrücken.

Frau Dr. Simm, Sie waren für Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. Wie kam es zu diesem Einsatz?

Dr. med. Vivian Simm: Mit Ärzte ohne Grenzen habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt. Mich haben die Hungersnöte in Äthiopien und Somalia Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre sehr geprägt. Ärzte ohne Grenzen hatte zu der Zeit eine sehr hohe Medienpräsenz. Mir wurde klar, dass ich Glück hatte, in diesem Teil der Erde geboren zu sein und ich entschied, dass ich irgendwann auch in einem humanitären Projekt arbeiten wollte.

Letzten Sommer, knapp ein Jahr nach meinem Facharzt, habe ich mich dann beworben. Bald danach bin ich gefragt worden, ob ich nach Afghanistan gehen möchte, in ein Geburtshilfeprojekt.

Bei Afghanistan denken viele Menschen zuerst an den Krieg. Wie war es für Sie, in eine so unruhige Region zu gehen?

Natürlich habe ich erst einmal geschluckt. Aber wenn man mit Ärzte ohne Grenzen unterwegs ist, rechnet man damit, in politisch instabile Regionen zu kommen. Also bin ich Ende Mai 2017 nach Kabul geflogen und von dort weiter nach Khost, direkt in das Stammesgebiet der Paschtunen – und der Taliban.

Wie war die Sicherheitslage im Land als Sie da waren?

Es gab am 31. Mai 2017 einen großen Anschlag im Diplomatenviertel in Kabul. Ich hatte die Stadt erst 30 Minuten vorher in Richtung Khost verlassen. Afghanistan ist ein Land im Krieg, ohne das wirklich Kriegsgeschehen da ist. Es kann immer und überall etwas passieren. In Khost ist drei Tage vorher ein großer Anschlag gewesen. Dabei ist ein Teil der Straße zum Flughafen weggesprengt worden, weshalb wir über Felder zum Krankenhaus fahren mussten.

War Ihnen diese Gefahr zu jeder Zeit bewusst?

Bevor ich losgeflogen bin, war mir das deutlich bewusst. Als ich in Afghanistan gearbeitet habe, hatte ich tausend andere Dinge im Kopf. Wenn man sich alle 24 Stunden mit der Kollegin abwechselt und die Verantwortung für rund 70 Geburten übernimmt, denkt man nicht ständig darüber nach. Die Menschen dort tun das ja auch nicht, sonst könnten sie keinen Alltag mehr leben.

Wie sah Ihr Einsatz in der Geburtshilfeklinik genau aus?

Das Krankenhaus in Khost hat das Ziel, die Müttersterblichkeit in der Region zu reduzieren. Überwiegend arbeiten dort nationale Mitarbeiter, die fest von Ärzte ohne Grenzen angestellt sind. Das Projekt sieht vor, dass jede Berufsgruppe von einem internationalen Mitarbeiter betreut wird, um Strukturen aufrecht zu erhalten und die nationalen Kollegen fortzubilden. Das ärztliche Team bestand unter meiner Leitung aus drei afghanischen und zwei bis drei internationalen Gynäkologinnen.

Wie viel konnten Sie Ihren afghanischen Kolleginnen in drei Monaten mitgeben?

Routine-Operationen machen die afghanischen Kolleginnen mittlerweile komplett selbstständig. Bei komplizierteren Eingriffen standen wir unterstützend zur Seite, da wir einfach ein größeres Erfahrungsspektrum mitbringen. Als Externe konnten wir zudem besser sehen, was anders laufen und wo man etwas verändern könnte.

Was war das zum Beispiel?

Als ich in der Klinik anfing, fiel mir auf, dass die Frauen im Bett meist auf dem Rücken lagen. Davon kann unter Umständen die Herzfrequenz des Kindes runtergehen. Wir haben den Müttern und Hebammen in Khost erklärt, dass eine andere Liegeposition und mehr Bewegung förderlicher sind. Am Ende des Monats hatten wir tatsächlich weniger schleppende Verläufe und weniger operative Entbindungen. Über diese Entwicklung bin ich sehr glücklich.

Außerdem habe ich mich dafür eingesetzt, dass der Vaginalultraschall öfter genutzt wird, da er bei manchen Fragestellungen sehr hilfreich sein kann. Die Kolleginnen konnten ihn zwar bedienen, wussten aber bisher nicht genau, wie sie die Ergebnisse deuten sollten. Am Ende meines Einsatzes wurde er tatsächlich besser eingesetzt.

Wie haben Sie selbst Ihre Einsatzzeit erlebt?

Ich habe eine irrsinnig hohe Arbeitsbefriedigung erfahren, konnte einfach nur Ärztin sein. Außerdem war es wirklich schön, zu sehen, dass man mit wenigen Mitteln viel erreichen kann. In Afghanistan sterben von 100.000 werdenden Müttern fast 400 während der Schwangerschaft oder der Geburt.¹ In der Geburtshilfeklinik in Khost ist die Quote sehr viel niedriger – weil eine Basis-Geburtshilfe mit ausgebildetem Personal angeboten wird. Das ist ein tolles Gefühl.

Gibt es einen Unterschied zwischen der Geburtshilfe hier und dort?

Wir hatten dort nur einen Kreißsaal – mit zehn Entbindungsbetten nebeneinander. Eine Schmerztherapie gibt es nicht. Die Frauen beißen halt ins Kopftuch. Männer dürfen gar nicht ins Krankenhaus. Die Frauen werden überwiegend von der Schwiegermutter begleitet. Gleichzeitig dürfen sie nicht selbst einem operativen Eingriff zustimmen. Das muss ein männlicher Familienangehöriger machen.

Wie haben Sie das Land abseits der Arbeit erlebt – außerhalb des Krankenhauses?

Ein Außerhalb gab es in dem Sinne nicht, weil ich auf dem Krankenhausgelände gelebt habe. Das Areal ist nur über Sicherheitsschleusen zugänglich. Es umfasst das Krankenhausgebäude, einen Komplex daneben für die Verwaltung und Wäscherei sowie den Wohnbereich. Aus Sicherheitsgründen war der Ausgang für uns internationale Mitarbeiter nur selten möglich.  

Welche Erfahrungen haben Sie aus Ihrem Einsatz mitgenommen?

Ich glaube, ich bin in vielen Punkten gelassener geworden und rege mich nicht mehr über Kleinigkeiten auf. Gerade wenn nicht immer alles verfügbar ist, sollte man  vorausschauend denken und einen Plan B haben – aber manche Probleme lösen sich auch ganz von selbst.

Für meine Kommunikation habe ich mitgenommen, dass es hilfreich ist, genau zu fragen, was der Gesprächspartner meint. Wenn man sich in einer Fremdsprache unterhält, gehen häufig die Zwischentöne verloren oder man interpretiert etwas falsch. Außerdem können wir nicht immer voraussetzen, dass das Gegenüber unseren Wissensstand teilt.

Insgesamt bin ich sehr glücklich und zufrieden zurückgekommen. Das war eine riesige Erfahrung und ich habe viel dabei gelernt. Es gab wirklich keine einzige Sekunde, in der ich gedacht habe, ich wäre jetzt lieber zuhause – und ich würde es unglaublich gern wieder machen.

Wie wurden Sie bei Ihrem Vorhaben unterstützt?

Vom Alfried Krupp Krankenhaus wurde ich freigestellt, habe also unbezahlten Urlaub bekommen. Das lief unproblematisch. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat mir ein kleines Gehalt bezahlt, mit dem ich meine laufenden Kosten in Deutschland decken konnte. So war ich auch versichert. Vor Ort bekam ich außerdem Unterkunft, Flüge und ein Taschengeld, mit dem das Essen finanziert wurde.

Kontakt

Dr. med. Vivian Simm
Weitere Informationen zum Geburtshilfeprojekt in Khost finden Sie auf der Internetseite der Ärzte ohne Grenzen.
 

¹ Zahl bezogen auf Lebendgeburten

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